Eine Rezension zu Willy Lindwer: the last seven months of Anne Frank. The stories of six women who knew Anne Frank, aus dem Niederländischen übersetzt von Alison Meersschaert, London: Macmillan 2013 (1988; 1991, 1999, 2004), 204 S.

Link zu dem Film, der diesem Buch zugrunde liegt mit englischen Untertiteln; Zugriff: 25.02.2023
Gelegenheit, diesen Text möglichst bald nach der Lektüre zu verfassen, bieten gleich zwei kurz hintereinander eintretende Anlässe: die Anfrage eines ehemaligen Kollegen, der um Lesetipps für seinen Rundbrief bat, und ein Gespräch im Supermarkt, wo die Rede auf Anne Frank und die in Norden anstehende Anne-Frank-Ausstellung „Anne Frank: Ein Mädchen schreibt Geschichte“ kommt.
Vom 21. April bis 15. Mai macht diese Wanderausstellung des Anne-Frank-Zentrums Berlin zum zweiten Mal nach 2017 im Ulrichsgymnasium Norden Station. Zur Ausbildung der künftigen Peer Guides fand am 20. Januar 2023 eine Tagesfahrt ins Anne-Frank-Haus Amsterdam statt, bei welcher Gelegenheit ich das Buch the last seven months of Anne Frank. The stories of six women who knew Anne Frank erwarb. Neben einem geschichtlichen Überblick, der auch die Leserschaft des viel bekannteren Tagebuchs mit seinen Briefen an Kitty in die Zeit nach der Entdeckung, Verhaftung und Deportation der Familie Frank und ihrer Freunde einführt, besteht dieses Buch aus sechs Erzählungen aus der Erinnerung.
Es enthält keine erläuternden Anmerkungen oder gar Korrekturen dieser Erinnerungserzählungen, da dieses Buch auf dokumentarischen Interviews beruht, die Willy Lindwer für einen Film geführt hatte. Selbst wenn eine Frau noch gut 40 Jahre nach dem Krieg bemerkt, sie glaube nicht, daß die Familie Frank überhaupt Deutsch sprach, was nichts anderes heißt, als daß sie auch dann nicht wußte, daß die Familie aus Deutschland stammte, ist dieses Buch eine sehr wertvolle Ergänzung zum Tagebuch.
Jede Frau hat ihre eigene Überlebensgeschichte mit den Begegnungen mit Anne Frank verknüpft. Außer Hannah Pick-Goslar, die Anne schon aus Kindertagen in Amsterdam kannte, wo sie fast nebeneinander aufwuchsen, das Kindergarten, Montessori-Schule und jüdisches Lyzeum besuchten, hatten diese Frauen verschiedenen Alters Anne Frank und ihre Familie nur in den Lagern Westerbork, Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen getroffen. Als Überlebende sind sie allesamt Otto Frank nach dem Krieg begegnet, dem die Nachwelt die Veröffentlichung des Tagebuchs verdankt und letztlich auch den Umstand, daß nach Jahren Interesse daran bestand, die Erinnerungen dieser Frauen an Anne Frank in den Lagern dem Vergessen zu entreißen.
Wer diese Erinnerungserzählungen liest, kommt nicht umhin zu fragen, wo sind all die anderen Erzählungen derjenigen Opfer wie Täter, die nicht berühmt sind, die aber dennoch Schreckliches erlebt haben, deren Kinder und Kindeskinder dankbar wären für solche Worte aus einer für die Nachgeborenen oft unvorstellbaren Vergangenheit, deren Spuren gleichwohl in Kellern, auf Dachböden, in Schubladen, in ungeöffneten Büchern und Briefumschlägen überdauern und dort wie eine „Leiche im Keller“ im buchstäblichen oder übertragenen Sinne ihr Unwesen treiben.
Überlebensgeschichten gibt es inzwischen viele, auch Bücher können eine solche erzählen, wenn sie etwa eine Feuersbrunst überlebt haben – so wie diese sechs niederländischen Frauen die Shoah überlebt hatten. Am 10. Mai 2023 jährt sich zum 90. Mal die an vielen Orten in Deutschland durchgeführte „Bücherverbrennung“, eben auch im ostfriesischen Norden. Es wird nach „überlebenden Büchern“ gesucht, damit deren Geschichte am historischen Ort der Bücherverbrennung in Norden, dem Fräuleinshof, direkt am Kunstgebäude des Ulrichsgymnasiums Norden, wo auch die Anne-Frank-Ausstellung stattfindet, präsentiert werden kann. Genaueres zu Ausstellung und der Aktion am 10./11. Mai 2023 unter:
AnneFrankinNorden.de
Nicht zuletzt ist Anne Franks Tagebuch selbst ein „überlebendes Buch“, denn ohne die wienerische Herkunft des SS-Offiziers, der die Verhaftung der Versteckten leitete, und seine Empfänglichkeit für den heimischen Dialekt bei der Helferin Miep Gies, ebenfalls aus Wien gebürtig, wäre die Durchsuchung des Verstecks wohl gründlicher verlaufen. Dann wäre das Tagebuch sicher entdeckt und niemals veröffentlicht worden. Seit bald 76 Jahren nun ist Anne Franks Tagebuch in verschiedensten Fassungen und Sprachen lebendig, seit dem 23. Februar 2023 gibt es auch einen viel diskutierten Animationsfilm von Ari Folman in den Kinos, der die Geschichte aus Sicht von Kitty erzählt, der fiktiven Freundin, an die Anne ihre Briefe und Tagebucheinträge richtet.


Wie das hier besprochene Buch fügt dieser Film der Geschichte Anne Franks und ihrer Familie und Freunde im Amsterdamer Versteck eine entscheidende Facette hinzu, macht deutlich, wie durch den Perspektivwechsel auch ganz andere Geschichten aus dem Versteck in den Herzen, Gedächtnissen, Familien geholt und mitgeteilt werden können.
Jörg W. Rademacher