Ronald Leopold ist der Direktor des Anne Frank Hauses in Amsterdam, das nicht nur ein Anziehungspunkt für jährlich über eine Million Besucher ist, sondern auch der Ort, wo die vielfältigen Aktivitäten unterschiedlicher Einrichtungen zusammenlaufen. Die Anne-Frank-Forschung ist längst nicht an ihr Ende gekommen, zumal selbst in die Irre führende Initiativen wie im Jahr 2022 das populärwissenschaftliche Buch, in dem der Verrat an den Menschen im Versteck angeblich aufgeklärt wurde, im Nachhinein zu einer genaueren Kenntnis der Umstände führen können.
Denn während der Fokus der Nachforschungen lange darauf gelegt wurde, die Versteckten seien verraten worden (S. 91-94), was sich in mehreren Anläufen nicht hat zu hundert Prozent erhärten lassen, sind andere Wege zur Wahrheit, wie etwa die systematische Untersuchung der wirtschaftlichen Aktivitäten der beiden Firmen im Haus an der Prinsengracht 263, lange Zeit vernachlässigt worden. Schließlich besteht die Firma nach der Übertragung der Leitung auf einen Nicht-Juden weiterhin, und allein vier Mitarbeitende, die tagsüber im Vorderhaus wirken, sind zugleich Helfer und Mitwisser um das Versteck im Hinterhaus. Ihre Hilfe allein reicht nicht aus, um die acht Personen zu versorgen, sondern es bedarf weiterer Personen, die außerhalb, sei es als Boten illegale Briefe, auch an die Verwandten der Familie Frank in der Schweiz, aufgeben, sei es als „Markenmänner“, wie sie Anne Frank im Tagebuch nennt, die im Frühjahr 1944 verhaftet werden (Leopold, S. 96).
Diese Männer sind sowohl Vertreter der Firma in den gesamten Niederlanden als auch Händler für Marken. Abnehmer sind neben den Versteckten im Hinterhaus all diejenigen, die illegal weiter in den Niederlanden leben. Gegen diese Tätigkeit hatte man in den Niederlanden seit 1942 eine eigene Polizeieinheit gebildet, die eventuell (S. 97) darauf gekommen war, daß die beiden Verhafteten vom Frühjahr auch mit der Firma in der Prinsengracht 263 verbandelt waren. Tatsächlich war ja auch die Firmentätigkeit, wie sie fortgeführt wurde unter Beteiligung des nur pro Forma nicht mehr aktiven alten Inhabers Otto Frank, nach damaligem NS-Recht „illegal“. Es steht noch nicht fest, aber allein die Tatsache, daß einer der niederländischen Polizeibeamten, „die die Untergetauchten im Hinterhaus festnahmen, nämlich Gringhuis, zu dieser Abteilung abgeordnet worden“ war (S. 96), könnte bedeuten, hier habe Kommissar Zufall den Deutschen und ihrer Absicht, alle Juden zu deportieren, in den Hände gespielt.
Solche Stellen, wo, ganz nüchtern, die bekannten Fakten miteinander verbunden werden, machen die Stärke dieses Buches aus, das der Verlag als „kleines Standardwerk“ (Rückentext) bewirbt. Es werden im Vorwort mehrere Koautor(inn)en genannt, doch die jeweiligen Kapitel nicht den Verfassern zugeordnet. (S. 8), vermutlich weil das Copyright vornehmlich bei der Institution der Anne Frank Stichting liegt (S. 4).
Wer verschiedene Quellen zu Anne Frank wahrnimmt, nicht nur das Tagebuch, dem fällt eines Tages beim Lesen historischer Arbeiten zum Thema auf, wie sehr sowohl das Leben der Familie Frank vor dem Krieg, während der Besatzung und im Versteck mit dem wirtschaftlichen Wohl und Wehe der von Otto Frank begründeten zwei Firmen wie mit deren Personal verbunden ist. Nicht zuletzt die Initiative Otto Franks nach dem Krieg, das Hinterhaus für die Nachwelt zu erhalten, hat sehr viel mit seinem Unternehmergeist und der Fähigkeit zu tun, Menschen um sich scharen, die er nicht in Abhängigkeit hält, sondern deren Eigenständigkeit im Denken – etwa im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland, dann auch in Österreich und zuletzt in den Niederlanden – so sehr wert schätzt, daß seine Frage, ob sie den Familien im Versteck helfen würden, in allen Fällen bejaht wird. Die Einheit dieser Firma wird auch dadurch belegt, daß der Tagesablauf im Versteck es Otto Frank und Hermann van Pels gestattet, unterstützt von den Töchtern, weiterhin am Arbeitsprozeß teilzuhaben (S. 60).
Das Familienunternehmen, nach außen hin nun anders aufgestellt und zum Schein „arisiert“, wie das wohl nur selten der Fall war, funktioniert. Die Rollenverteilung bleibt konventionell, die Jugendlichen unterstützen die Sekretärinnen (Margot und Anne für Bep Voskuijl und Miep Gies), die Mütter kochen, die männlichen Mitglieder dürfen wenigstens „Brot“ holen (Peter), also die anderen versorgen. Nur der Arzt Fritz Pfeffer bleibt in dieser Aufgabenverteilung außen vor (S. 60).
Kompetent und klar von Waltraud Hüsmert übersetzt, überzeugt das Buch in vielen Punkten ganz und gar. Nur bei der Frage der Wirkung von Anne Frank im geteilten Deutschland wird erkennbar, daß nur der Dialog nicht nur zwischen Autor(en) und Übersetzerin geführt worden ist. Um dem Anspruch, ein „kleines Standardwerk“ vorzulegen, zu genügen, wäre es überdies nötig gewesen, mehr auszuholen bezogen auf die die komplexe Rezeptionsgeschichte von Anne Frank international und in den Niederlanden einerseits sowie im geteilten Deutschland andererseits. So wird die Lesereise, die Miep Gies nur sechs Wochen vor dem Fall der Mauer am 9. November 1989 mit ihrem Mann in die DDR unternimmt, mithin ein punktuelles Ereignis, mit einem aus einem Interview stammenden Zitat abgeschlossen. „Das schönste an unserer Reise in die DDR war, dass wir fühlten: In diesem Land ist Anne verstanden worden.“ (S. 130)
Kommentarlos wird im nächsten Absatz zutreffend fortgeführt, der „Begriff des Widerstands“ habe „bei der Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank“ in Westdeutschland „kaum eine Rolle“ (S. 130). Hier wird letztlich ausgehend vom zuvor benannten, ebenfalls zutreffenden Hinweis auf den „Antifaschismus“ als „integrierendem Mythos“ (S. 130) in der DDR bis zum Zitat von Miep Gies eine Möglichkeit zur differenzierenden Betrachtung offen gehalten, was durch das idealisierende Diktum der Retterin des Tagebuchs ad absurdum geführt wird, weil der Kontext, der Kampf gegen die SED-Diktatur im Herbst 1989, was die Zeitgenossen nicht wissen konnten, die heutigen Historiker aber sehr wohl wissen sollten, hier noch immer nicht in den Blick rückt. So entsteht ein schiefes Bild der Rezeption von Anne Frank in der DDR, denn in den dortigen Bundesländern werden heutzutage Anne-Frank-Wanderausstellungen auch in politischen Brennpunkten mit entsprechender rechtsradikaler Ausrichtung der Bevölkerung gezeigt. An die Stelle des „Mythos“ vom Widerstand ist seit 1989 gar nichts getreten. Aufklärung ist also sehr vonnöten.
Beim genauen Blick auf das Literaturverzeichnis wird dann deutlich, hier hätten deutschsprachige und internationale Forschung und Rezeption enger miteinander verzahnt werden müssen, um das Werk in den Zusammenhang zu stellen, der automatisch eröffnet wird, soll ein Sachbuch übersetzt werden. So fehlt etwa jeder Hinweis auf die 2019 publizierte Übersetzung – durch Waltraud Hüsmert! ‒ des Tagebuchs, wie Anne Frank es 1944 zum Roman umgeschrieben hatte. Übersetzer sind oft gehalten, diplomatisch zu sein. Wer im Geschäft bleiben will, hält an solchen sensiblen Punkten gegenüber Autor und Verlag den Mund. Mancher tut das nicht – zum eigenen finanziellen Schaden.
Als Vermittler der fehlenden Informationen hätten hier andere aufzutreten, denn die Übersetzung von Annes Tagebuch-Romanfragment, das ein Vorwort von Laureen Nussbaum enthält, ist lange strittig gewesen zwischen den verschiedenen Vertretern der Interessen von Anne Frank. Allein zwei Institutionen gibt es in Deutschland, je eine in der Schweiz, den Niederlanden und in Großbritannien. Auch wenn das Logo des Anne Frank Hauses auf dem Rücken prangt, sollte es möglich sein, im Sinne der wissenschaftlichen Erforschung des Phänomens hier ausgewogener zu agieren.
Insgesamt jedoch lohnt die Lektüre in jedem Fall. Das Buch enthält interessante Abbildungen. Karten mit genauer Markierung der Wege, die bis 1933/1934 und dann 1944/1945 zurückgelegt wurden, etwa der noch immer so verlaufenden Eisenbahnlinien, wie sie auf manchen Karten in den Ausstellungen schon zu sehen sind, wären eine willkommene Ergänzung der Zeittafel.
Ronald Leopold, Anne Frank. Aus dem Niederländischen übersetzt von Waltraud Hüsmert, München: CH Beck Wissen, 144 S., 2023.

Wer tiefer graben möchte, sollte zu einem anderen Buch greifen, das als Erzeugnis des Anne-Frank-Hauses all die positiven Punkte des „kleinen Standardwerkes“ zur historischen Rekonstruktion mit der Präzision eines in der Zusammenstellung von Text, Abbildungen und Kartenmaterial sehr gelungenen Handbuchs enthält. Tatsächlich ist Anne Frank im Hinterhaus. Wer war wer?, herausgegeben vom Anne Frank Haus und ebenfalls übersetzt von Waltraud Hüsmert, obwohl es schon vor zehn Jahren erstmals erschien und mir in der Auflage von 2015 vorliegt, nicht nur wissenschaftlich wesentlich genauer bezogen auf die verwendeten Quellen, sondern auch an vielen Stellen die Vorlage für die jüngere Publikation.
Das Reihenformat hat wohl dazu geführt, daß für das Verständnis etwa der Binnenverhältnisse der acht Untergetauchten wesentliche Momente wie die Aufgaben und die Rolle von Fritz Pfeffer in Anne Frank ausgeblendet sind. Denn wenn einerseits gekürzt werden soll und anderseits neue Elemente hineinfinden sollen, ist es sehr kompliziert, hier immer die richtige Balance zu finden. Deutlich ist jedenfalls die klar historische Dimension der Publikation des Anne Frank Hauses, was dazu führt, daß dem Betrachter der Ausstellung „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“ die Schicksale der acht Versteckter, ihrer Helfer, wie des weiteren Umfeldes über die Kriegszeit hinaus plastisch vor Augen stehen, und zwar durch Bilder ebenso wie durch die Texte. Kleine Redundanzen sind in den auf die Personen bezogenen Kapiteln meines Erachtens eher zu verschmerzen als die argumentativen Lücken, die sich im „kleinen Standardwerk“ auftun.

In der Betrachtung beider Bücher zusammen erhellt, wie wenig sinnvoll es ist, einem Sachbuch zum Thema Anne Frank neben dem Reihenformat (Satzspiegel, Seitenzahl, Anzahl und Art der Abbildungen) eine Argumentationsweise aufzuerlegen, die eher Teil des Verlagskonzeptes ist als Ziel der Forscher, die im Anne Frank Haus an beiden Werken gearbeitet haben. Vermutlich wäre es sinnvoll gewesen, für die oben vor allem kritisierte Diskussion der Rezeption von Anne Frank im geteilten und nun seit gut dreißig Jahren wieder vereinigten Deutschland entweder ganz zu verzichten oder diese Aufgabe in Zusammenarbeit mit den beiden Institutionen zu erfüllen, die sich in Deutschland dem Thema Anne Frank widmen.
Anne Frank Haus (Hg.), Anne Frank im Hinterhaus. Wer war wer?, übersetzt von Waltraud Hüsmert, Amsterdam: Anne Frank Haus, 2015 (2013), 180 S., € 8,75 (in sieben Sprachen und auch als E-Book sowie online aus Amsterdam wie aus Berlin erhältlich).
Jörg W. Rademacher, am 24./25. April 2023 in der Anne-Frank-Ausstellung in Norden, revidiert am 20. Juni 2023
Ein weiteres Buch ist hier anzuzeigen, das in vielen Aspekten Schlaglichter wirft auf die Familie Frank und zugleich offenkundig macht, wie sehr die Erforschung der Ausgrenzung, Vertreibung und Auslöschung der Juden in Deutschland und Europa immer noch am Anfang steht. 1957 geboren, hat Menno Kalmann mit Der Tausch. Chronik einer jüdischen Familie

den Weg zurück in die sächsische Heimat seiner Großeltern verfolgt, die dort ein Kaufhaus betrieben, in die Niederlande emigrierten, wo sie erneut als Geschäftsleute aktiv wurden. Ein wesentlicher Zusammenhang zur Familie Frank ist bereits hier gegeben, denn hätte Otto Frank nicht als Firmeneigner gearbeitet, sondern eine Anstellung gesucht, wäre ihm schon 1933 nicht gestattet worden, in den Niederlanden zu bleiben, geschweige denn seine Familie nachzuholen. Genau das kann der Großvater Menno Kalmanns dann tun, dabei sogar einige Gegenstände und Geld aus Familienbesitz über die Grenze schmuggeln lassen, was jedoch eines Tages auffliegt. Auch diese Familie lebt einige Zeit im Versteck, bis Kalmanns Großeltern, Vater und Onkel die Flucht nach Frankreich gelingt. Die erste Frau seines Vaters, Tochter des jüdischen Schriftstellers Georg Hermann (1871-1943), läßt sich daraufhin von Herbert Kalmann scheiden, bleibt mit ihrem Sohn Michael beim Vater, ehe alle drei ins Lager Westerbork deportiert werden. Auch gibt, nur historisch früher, gibt es Berührungspunkte mit der Familie Frank. Die bedrückenden Kapitel zum Lager Westerbork, das ja schon vor dem Krieg existiert hatte, machen deutlich, welche Zustände dort herrschten unter der von den Besatzern eingesetzten jüdischen Verwaltung. Diese Chronik ist das Resultat der Familienzusammenführung, die der Sohn Michael Kalmann aus erster Ehe von Herbert Kalmann eines Tages durch einen aus Israel in die Niederlande geschickten Brief an seinen Vater in Gang setzt.
Eine Autorin, die Menno Kalmann bei der Leipziger Buchmesse interviewt und auch einen Beitrag für den Deutschland-Funk unter dem Titel „Das Wunder von Bergen-Belsen“ verfaßt hat, schließt ihren Text wie folgt:
„Rettung durch die „Palästina-Liste“
Auch wenn man solche Szenen schon oft gelesen hat, so lassen sie einen doch niemals kalt. Menno Kalmann hätte seine Chronik zwar etwas weniger weitschweifend und detailliert formulieren können, dennoch lässt sich die Notwendigkeit, mit der er erzählt, erzählen muss, gut nachvollziehen. Schließlich mündet die Geschichte tatsächlich in einen Tausch, wie es im Titel des Buches angekündigt wird. Herbert Kalmann gelingt es, die Herrmanns auf eine sogenannte „Palästina-Liste“ der Jüdischen Agentur in Genf setzen zu lassen. Mit ihr werden europäische Juden unter anderem gegen Bewohner der erwähnten Tempel-Kolonie in Haifa ausgetauscht, die dort als eine Art Geiseln der Briten ausharren. Für Georg Herrmann kommt jede Rettung zu spät, doch Uschi und Michael werden aus Bergen-Belsen, wo sie mittlerweile gelandet sind, abgeholt und nach Palästina gebracht. Ein kleines Wunder mitten im tiefsten Grauen.
Während Uschi Herrmann in Palästina eine neue Heimat und einen neuen Mann findet, gründet Herbert Kalmann in den Niederlanden eine zweite Familie und nennt einen seiner Söhne Menno. So ist dieses Buch einmal mehr der Beweis, dass die Wirklichkeit oft jede Fiktion schlägt. Aber auch dafür, dass die Nationalsozialisten den gesamten europäischen Kontinent so sehr erschüttert haben, dass scheinbar überschaubare Lebenswege von Weißenfels und Neckargemünd plötzlich bis nach Amsterdam und Haifa führten, im besten aller Fälle.“
assets.deutschlandfunk.de (Bettina Baltschev, „Das Wunder von Bergen-Belsen“; 17.03.2023) (Zugriff: 20.06.2023)

Menno Kalmann, Der Tausch. Geschichte einer jüdischen Familie. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse, Coesfeld: Elsinor Verlag, 468 Seiten, 33 Euro.