Im Juni 2018 war ich nicht auf Zack und kaufte nichts im Laden des Anne-Frank-Hauses, nicht einmal an die für 2020 geplante zweite Auflage der Anne-Frank-Ausstellung in Norden dachte ich an jenem Tag.
Erst ein Jahr später, genau am 3. Oktober 2019, war ich erneut in den Niederlanden mit der festen Absicht, nach dem Besuch eines Streichelzoos mit Alpakas noch nach Winschoten zu fahren, um dort endlich eine Originalausgabe von Het Achterhuis zu erwerben. Schließlich wurde das Regal mit Ausgaben des Tagebuchs, dessen Revision und Editionen auf deutsch, englisch, französisch immer voller. Doch genügten ein Paar nasse Schuhe, zwar Ersatzstrümpfe, aber keine Stiefel, um den Ausflug abzukürzen, noch bevor wir Richtung Winschoten abgebogen waren. Allein für manche niederländische Spezialitäten, etwa Maiswaffeln mit Schokoladenüberzug, reichte es noch im grenznahen Supermarkt und einen letzten Blick auf Zeitschriften und Magazine in der so nahen und doch oft so fremd wirkenden Sprache.
Niemand ahnt Anfang Oktober 2019, was ab Januar 2020 kommen wird. Für mich ist es die vorletzte Auslandsreise bis Januar 2023, als es erneut nach Amsterdam geht. Inzwischen behelfe ich mich in Norden und Leer mit der geliehenen Ausgabe einer Referendarin, die Niederländisch gelernt und das Tagebuch selbst erworben hatte. Als diese im Juli 2020 die Schule examiniert verläßt, ist die für das Frühjahr geplante Anne-Frank-Ausstellung längst abgesagt und auf einen unbekannten Zeitpunkt verschoben. Also drängt die Zeit nicht, denn als im Spätsommer die Schule wieder beginnt mit einem Wechselbad von Maskenpflicht und freiwilligem Tragen der Masken, ahne ich bald, daß wir noch einmal auf einen Lockdown zusteuern und damit auf eine weitere Verschiebung der Ausstellung.
Erst als im Jahr 2021 allmählich durch Impfungen und Veränderung des Virus Perspektiven für eine Neuansetzung auftauchen, was im November auch zur Terminierung auf das Jahr 2023 führt, wird der Wunsch, endlich das Original des Tagebuchs selbst in den Händen zu halten, wieder dringlicher. Kein Buchhändler vermag es zu bestellen, was ich erst Ende 2022 auch begründet bekomme, denn Bibliothekar des UGN, ehemals Buchhändler, erklärt mir, es gebe nach dem Vordringen des Internets auf den Buchmarkt, für niederländische Titel keinen Markt mehr für sie in Deutschland. Auch Spezialläden wie der im Anne-Frank-Zentrum Berlin führt das Tagebuch nicht im Original. Also bleibt nichts anderes mehr übrig als eine Direktbestellung in Amsterdam – will ich nicht den ungeliebten Branchenprimus im Internet benutzen. Ohne reguläre Kreditkarte klappt das jedoch auch nicht, da es aber das viel größere Problem der Direktbuchung der Eintrittskarten für die geplante Amsterdam-Fahrt der Peer Guides gibt, spreche ich jemanden an, der über solch eine Kreditkarte verfügt und bereits ist, das Geschäft nach Vorkasse ehrenamtlich durchzuführen. Innerhalb weniger Tage sind nicht nur die Tickets bezahlt, sondern auch die beiden Bücher in Norden angekommen. Eines wandert direkt in die Bibliothek des UGN, das andere dient mir endlich als direkte Quelle des von so vielen sprachlichen wie kulturellen Importen aus Deutschland gekennzeichneten Tagebuchs der Anne Frank. Selten habe ich auf ein Buch so lange warten und so viele Hindernisse überwinden müssen.
Wer es noch nicht gelesen hat, sollte ruhig noch warten, bis die Ausstellung in Norden gezeigt wird, denn solch ein Anlaß ist immer hilfreich, um die Motivation zu stärken. Ich hatte erst nach dem Besuch des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam die innere Kraft, das Tagebuch von Anfang bis Ende zu lesen.
Verschiedene Etappen wie die Lesung aus einer Biographie von Melissa Müller im Haus der Niederlande in Münster im Jahr 1995, der Besuch einer Anne-Frank-Ausstellung in Mosbach 1998, desgleichen in Leer 2004, der Besuch in Bergen-Belsen 2010 oder der in Auschwitz 2016 oder die Ausrichtung der Ausstellung in Norden 2017 waren weder einzeln noch in der Summe stark genug gewesen, um mir die Ausdauer für diese Lektüre zu verschaffen.
Jörg W. Rademacher, im Februar 2023
