Jörg W. Rademacher
Viermal habe ich in gut 25 Jahren eine Anne-Frank-Ausstellung besucht, sehe ich von dem Tag im August 2019 ab, als während der Berlin-Fahrt meiner damaligen Klasse 10b des Ulrichsgymnasiums Norden die Ausstellung „Alle über Anne“ des Anne-Frank-Zentrums auf dem Programm stand. Diese Unternehmung stand ganz im Zeichen der für April/Mai 2020 geplanten Durchführung des Projekts „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“ im Kunstgebäude des Norder Gymnasiums. Ich nehme diesen Tag ebenso aus wie die beiden Male, als ich mit Schülern im Anne Frank Huis in Amsterdam war. Denn die Berliner Einrichtung zieht wie das Hinterhaus in Amsterdam Besucher an wie ein Magnet.
Vor Ort jedoch in Mosbach am Neckar, in Leer (Ostfriesland) und nun zum zweiten Male in Norden sieht das ganz anders aus. Sind keine vorangemeldeten Schülergruppen da, hält sich die Zahl der Besucher in engen Grenzen, dabei sind es nicht nur ältere Menschen, die den Weg ins Kunstgebäude finden, auch nicht nur solche, die eventuell eine Begleitung im Unterricht verpaßt haben und deshalb am Wochenende oder am Feiertag erscheinen. Wer indessen kommt und konzentriert die verschiedenen Module von allen Seiten anschaut, denn für eine Anordnung, die es ermöglichen würde, alle Module für größere Gruppen beidseitig zugänglich zu machen, ist kein Platz da, stellt Fragen und macht Bemerkungen, die den anwesenden Peer Guides und dem Organisator der Ausstellung zeigen, wie wertvoll diese zeitweilige Leihgabe auch an diesem entlegenen Ort sein kann.
So zeigt sie etwa den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Geschichte und Politik, wie es die beiden Schulfächer wegen der verschiedenen Schwerpunkte und didaktischen Zugänge nur selten zu tun vermögen. Denn was heute als Stoff für Geschichte firmiert, ist seit den alten Griechen und Römern für die jeweiligen Zeitgenossen bis etwa eine Generation später noch Teil der Politik gewesen. In Einzelgesprächen mit den Besuchern kann es also an solchen Tagen gelingen, vertiefte Einsichten in die Verknüpfung der Wissensbereiche zu schaffen, die schulisch so oft getrennt sind.
In der Anne-Frank-Ausstellung jedoch ist durch die Zweiteilung in einen historischen und einen aktuellen Bereich deutlich, wie wichtig die Beschäftigung mit der Vergangenheit für die Gestaltung von Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft ist. Da in ihr präzise Zusammenhänge zur Geschichte einer Familie aufgezeigt werden, wäre die Beschäftigung mit der Familie Frank für jede Familie vor Ort und jedes ihrer Mitglieder ein guter Anlaß, entsprechende Fragen an die eigene Vorgeschichte zu stellen. Doch da die Momente, da ein Mensch bereit ist, solche Fragen zu formulieren, nicht programmierbar sind, steht die geringe Zahl von Besuchern in der Anne-Frank-Ausstellung wie auch in manchen anderen Gedenkstätten ähnlicher Art vermutlich im direkten Verhältnis zum großem Schweigen, das immer noch über den Ereignissen der NS-Zeit, der Vorkriegsphase, der Kriegszeit wie des Nachkriegs liegt.
Dabei sind seelische Wunden wie leibliche Wunden: Sie heilen nicht, wenn keine Frischluft an sie kommt. Eine offene seelische Wunde ist wie eine blutende leibliche Wunde weniger schlimm als alles, was unter der Haut verborgen liegt und nicht nach außen dringt. Wer dünnhäutig oder zart besaitet ist, weiß, wovon hier die Rede ist. Besonders berührend sind Gespräche in der Ausstellung, aus Anlaß der Ausstellung oder auch nach der Ausstellung, wenn in ihnen erkennbar wird, welche Bewegung die Bilder und Daten bei den Besuchern ausgelöst haben, weil sie etwa selbst vor gut zwanzig Jahren vom Osten Deutschlands nach Ostfriesland gezogen sind, um heute, nach Verlust des Ehepartner, weiterhin hier zu leben, offen für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben am Beispiel der Familie Frank und imstande, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, um in der Nachkriegsgeschichte, die sie selbst erleben haben, die logische Fortsetzung des von ihnen zum Teil nicht einmal selbst erlebten Krieges zu erkennen. Individuen aller Art, nicht nur Berühmtheiten oder Teilnehmende an Haupt- und Staatsaktionen schreiben jeweils auf eigene Art an der Geschichte mit, also lohnt auch ein individueller Blick ins Familienarchiv, auf die Spuren, die Vorfahren in Sprache und anderen Hinterlassenschaften der Geschichte eingeschrieben haben.

Was geht mich das an? So könnten viele Bewohner fragen, wenn sie an Plakaten oder Bannern zu historischen Ausstellungen vorbeilaufen, meist nicht einmal stehen bleiben, denn anders als sonstige Werbemitteln stellen diese keine Verlockung oder gar Verführung dar. Von Farbgebung und Design ist Historisches oft eher zurückhaltend, denn eines sollen diese Vorhaben vor allem nicht: die Betrachtenden überwältigen, überfallen, da die Überraschungen, die solche Projekte vorhalten, zumeist für die von ihnen Betroffenen alles andere als angenehm sind. Wer möchte schon gern in einer Ausstellung damit konfrontiert sein, daß etwa der eigene Grund und Boden vor bald 80 Jahren der Ort eines Konzentrationslagers war. Nichts anderes ist der Ausstellung „Unsichtbares sichtbar machen“ von Herbert Müller derzeit in der Ludgerikirche Norden zu sehen. Dieses seit den 1980er Jahren anhaltende Projekt, das Herbert Müller Anlaß bezogenen immer wieder „ereilt“ hat, wenn nämlich als Reaktion auf ausgestellte Bilder, zumeist Auszüge des immer wieder angewachsenen Gesamtprojekts, weitere Informationen von Zeitzeugen und Nachkommen der Opfer auftauchten, nutzt den Chorumgang der Ludgerikirche Norden auf geradezu geniale Weise. Zunächst einmal bietet der helle Raum Gelegenheit, Dinge bei Licht zu besehen, die vor Ort, im Angesicht der stehenden Gebäude von damals wie der auf dem Grund erbauten Wohnhaussiedlung, kaum Wirkung entfalten können. Auch die auf lange Banner geklebten Totenzettel, die von der hohen Decke herunterhängen, wirken mit Macht, sind sie doch die nach außen gekehrte Kraft des Archivs der Toten, das, wenn es denn überhaupt erhalten sind, nur allzu gern in Kartons, Keller- und anderen Gewölben verwahrt wird, wo nur Ausgewählte Zugang haben. Wer so einen „vergifteten Schatz“ einmal gehoben, jahrzehntelang verschlossene Schubladen geöffnet, geleert und sortiert hat, um auf verborgen gehaltene Momente des Glücks wie des Unglücks zu stoßen, denen ist bewußt, wie sehr Herbert Müller zu danken ist dafür, nicht locker gelassen zu haben, wann immer ihn das Leben in Gestalt der Betrachter seiner Bilder darauf stieß, an dem Projekt KZ Engerhafe weiterzuarbeiten.

Herbert Müller, Blick aus dem Fenster, Kohle 2000. Ein Bürger schaut auf das KZ.
Offen für die aus dem Archiv sprechenden Stimmen – seien es die Toten, zunächst nur gezählt, später auch identifiziert, sofern das möglich war, seien es die Totenköpfe, die Herbert Müller mit der Opfernummer versieht, darauf achtend, daß jeder sein eigenes Gesicht bekommt, seien es die perfekt zur Bodenarchitektur mit den Grabmalen aus alter Zeit passenden Totenbildern, stets wird klar, hier hat Herbert Müller die nur wenige Wochen dauernde Phase aus verschiedenen Blickwinkeln und dem Off der Geschichte auf die Bühne der Gegenwart geholt, und zwar im doppelten Sinne, denn Bilder beschreiben sich im Präsens, im Englischen sogar in der Verlaufsform, sie sind nicht nur greifbar, sondern auch im Wortsinne präsent. Zumindest kann wer sie betrachtet nicht mehr leugnen, daß hier etwas sichtbar gemacht ist, das zu verbergen selbst der sonst alles überwuchernden Natur oftmals nicht gelingt, wenn denn etwa ein Sturm, ein Unwetter, ein Tornado, ein Sturzregen dafür sorgt, daß das Unterste nach oben gekehrt wird.
Hier liegt nicht nur der direkte Zusammenhang zu Herbert Müllers Bildern zur Natur Ostfrieslands offen zutage. Vielmehr wird so auch offenkundig, warum durch die Auseinandersetzung mit der Lokalhistorie Ostfrieslands sein künstlerisches mit dem zeitgeschichtlichen Interesse eine so gelungene Symbiose eingehen kann. Denn ob jemand in die Schichten des Bodens schaut, als Bodenkundler oder Archäologe, oder in die Schichten der eigenen Persönlichkeit, als Mensch oder als psychologisch Gebildeter, in jedem Fall wird im Ergebnis etwas sichtbar werden, das Historiker und Schriftsteller im Nacheinander erzählen, während es Künstler im Nebeneinander sichtbar machen.
7. Juli 2023, 19.00 Uhr – Buchvorstellung und Diskussion „Was bedeutet Gedenken?“ Dr. Insa Eschebach, Religionswissenschaftlerin, FU Berlin
28. Juli, 19.00 Uhr – Finissage, Bericht über die Neugestaltung der Gedenkstätte in Engerhafe mit Dr. Simone Erpel, Kuratorin
www.norden-ludgeri.de%2FAktuelles%2FNachrichten (Zugriff: 23.06.2023)