90. Jahrestag der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933
- Begrüßung
- Grußwort der Vertreterin des Bürgermeisters der Stadt Norden, Frau Dr. Weinbach
- Präsentation geretteter Bücher durch Herrn Dr. Jörg W. Rademacher
1. Begrüßung
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Frau Dr. Weinbach als Vertreterin des Bürgermeisters der Stadt Norden,
hiermit möchte ich Sie recht herzlich zum Gedenken an die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 begrüßen. Genau vor 90 Jahren fand am Abend dieses Tages am Berliner Opernplatz eine große Bücherverbrennung statt. Diese „Aktion“ nationalsozialistischer Studenten gab es vor allem in Universitätsstädten. Da sie jedoch schon „Mitte März“ begonnen hatte,1 am 26. März mit Publikation einer „Schwarzen Liste: Schöne Literatur“ ihren Fortgang fand2 und bis Oktober 1933 anhielt, verzeichnet eine interaktive Deutschlandkarte bislang viele Städte, auch solche ohne Universität. Nicht nur wurde jene erste Liste zu verbrennender Bücher ständig erweitert, sondern es gab an vielen Orten „Aktivisten“, die nach „Brennstoff“ fahndeten. „Allein in Berlin landeten etwa 20 000 Bände in den Flammen.“ (EZ)
Wer in den letzten Wochen die Anne-Frank-Ausstellung im Kunstgebäude des UGN besucht hat, wird in einem Modul die Zahlen der Opfer, aber auch die Opfergruppen gesehen haben: neben Juden waren das Kommunisten, Sozialisten, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, in Ostfriesland auch Mennoniten, die den Kriegsdienst verweigerten, sowie Menschen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen. Doch schon vor der Einrichtung von Vernichtungslagern im Zweiten Weltkrieg gab es Konzentrationslager, wo diese Menschen zu Tode kamen, sich zu Tode arbeiteten, an den Krankheiten zum Tode zugrunde gingen.
Wer noch etwas früher erkannt hatte, was die Vertreter der NS-Diktatur, allen voran, aber nicht allein Adolf Hitler, planten und dann Schritt um Schritt durchführten, brauchte nur im Frühjahr 1933 Augen und Ohren ganz weit zu öffnen. Die Bücher, die verbrannt wurden, hatten eben nicht nur Juden als Autoren, sondern auch Kommunisten, Sozialisten, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, in Ostfriesland auch Mennoniten.
Das heißt, wer nur ahnte, was nach der Bücherverbrennung eines Tages folgen würde, suchte so rasch wie möglich das Weite, verließ Deutschland. Das taten auch etliche Autoren, doch längst nicht alle. Die Gründe sind vielschichtig.
Heute wird es jedoch darum gehen, gerettete Bücher vorzustellen. Exemplare von diesen zu finden, das war das Lebenswerk von Georg P. Salzmann, der am Ende seines Lebens von 90 Schriftstellern, deren Werke verbrannt worden waren, an die 8500 Werke ausfindig gemacht und in einer „Bibliothek der verbrannten Bücher“ zusammengestellt hatte, die heute in der Universitätsbibliothek Augsburg analog und auch digital zugänglich ist.
Eine ganz andere Aufgabe ist es nun, fast 50 Jahre später, denn Salzmann begann zufällig 1976 mit seiner Sammlung, weitere Bücher zu finden, die das willkürliche Inferno von 1933 im Versteck überlebt haben. Durch das Internet fällt es viel leichter, nach bestimmten Autoren und Titeln zu suchen als früher. Doch das Wissen um diesen Vorgang der Bücherverbrennung auch an kleinen Orten wie Norden ist verschüttet, wenn nicht ganz verdrängt, ausgeblendet, ausgelöscht. Deshalb bedarf es eines Moments wie den heutigen 90. Jahrestag der Bücherverbrennung, um eventuell Türen in bislang verschlossene Gedächtnisräume und Bibliotheken vor Ort zu öffnen.
1 Andreas Duderstedt, „Brennende Bücher. Schon die Bibel zeigt den Geist der Zerstörung von Gedankengut“, Evangelische Zeitung (EZ), Nr. 19, 7. Mai 2023, S. 2.
2 wordpress.com (buecherverbrennung-schwarze-listen.pdf ; Zugriff: 07.05.2023)

Berlin, 10. Mai 1933 Fotografie © Bundesarchiv
Inv.-Nr.: Bild 183-R70390

geo.de
(Zugriff: 7. Mai 2023)
2. Grußwort von Dr. Kerstin Weinbach,
stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt Norden
Liebe Schülerinnen und Schüler, lieber Herr Dr. Rademacher,
sehr geehrte Damen und Herren,
auch im Namen unseres Bürgermeisters Florian Eiben, der heute leider nicht selbst anwesend sein kann, darf ich Sie heute für die Stadt Norden alle sehr herzlich begrüßen zu dieser wichtigen Veranstaltung zum Gedenken an den Tag der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten 1933 – also heute genau vor 90 Jahren.
Denkt man an die Gräueltaten der NS-Zeit, wirkt das Geschehene immer so fern und unvorstellbar auf uns. Diese Zeit wirkt so weit weg von der Gegenwart und dem, was uns im Hier und Jetzt beschäftigt. Umso wichtiger sind Initiativen, z.B. mit Ausstellungen wie dieser Anne-Frank-Ausstellung und Gedenkveranstaltungen wie dieser heute immer wieder für Erinnerung zu sorgen – und damit für die Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen.
Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 steht als Sinnbild für Antisemitismus, Intoleranz und Menschenverachtung sowie für die gezielte Unterdrückung jüdischer Kultur, gesellschaftlicher Minderheiten und politisch Andersdenkender. Bekannte und unbekanntere Autorinnen und Autoren, ob aus Literatur, Journalismus oder Wissenschaft, kamen mit ihren Werken auf die Liste zu verbrennender Bücher. Darunter viele Autorinnen und Autoren, die wir heute noch kennen, wie z.B. Erich Kästner, Anna Seghers, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Joachim Ringelnatz oder Bertha von Suttner.
Denkt man an die geschichtsträchtigen Ereignisse aus dieser Zeit, verknüpfen wir diese oftmals mit Berlin oder anderen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Schauplätzen. An was wir oft nicht denken: Auch hier in unserem heute so friedlichen Norden wurden vor genau 90 Jahren ebenso die Bücher der von den Nationalsozialisten so verhassten Autorinnen und Autoren verbrannt.
Dies zeigt, dass Hass und Antisemitismus keinen Halt macht vor räumlicher Distanz oder Grenzen – auch hier in Ostfriesland fand die Bücherverbrennung statt. Und auch hier gilt es (leider), sich auch im Jahr 2023 mit rechtsradikalen Strömungen und Entwicklungen auseinander setzen zu müssen. Umso wichtiger ist es, hier wie überall, immer wieder an die Verbrechen der NS-Zeit zu erinnern und den Opfern unsere Stimme zu geben. Es ist an uns, eine klare Haltung gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Hass zu zeigen und stets für Menschlichkeit, Toleranz, Respekt und ein friedliches Miteinander einzustehen.
Mein besonderer Dank gilt daher allen Verantwortlichen und allen Helferinnen und Helfern, die diese wichtige und sehr gelungene Anne-Frank-Ausstellung hier in Norden initiiert und ermöglicht haben, besonders Herrn Dr. Rademacher und den Schülerinnen und Schülern, die hier mitgearbeitet haben.
Schließen möchte ich mit einem hoffnungsvollen Zitat von Erich Kästner, der die Verbrennung auch seiner eigenen Bücher heute vor 90 Jahren selbst mit ansehen musste. Das Zitat stammt aus seinem Text: „Über das Verbrennen von Büchern“ aus dem Jahr 1958:
„Bücher sterben nur eines natürlichen Todes. Sie sterben, wenn ihre Zeit erfüllt ist. Man kann von ihrem Lebensfaden nicht eine Minute abschneiden, abreißen oder absengen. Bücher, das wissen wir nun, kann man nicht verbrennen.“
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
3. Präsentation einiger geretteter Bücher
Wer liest und schreibt, ist als Individuum tätig, hegt und pflegt den eigenen Geist, sammelt und hütet Gedanken und Worte. Kurz: wer liest und schreibt, ist zunächst für sich tätig. Erst wenn es ans Veröffentlichen geht, ob beim Vorlesen oder Schreiben, kommen andere, wiederum zunächst und zumeist Einzelne ins Spiel. „Die Gedanken sind frei.“ Diesen Grundsatz treten Diktatoren und alle, die ihnen dienen, mit Füßen. Ganz im Gegenteil fördern und stärken sie die Unfreiheit des Denkens. Eine besondere Art dieses Nicht-selbst-Denkens formuliert ein besonders williger Helfer Hitlers am 21. Februar 1934: „Es [ist] die Pflicht eines jeden, zu versuchen, im Sinne des Führers ihm entgegen zu arbeiten.“1

Gemeint ist hier, an allen Orten und zu jeder Zeit noch mehr zu tun, als der Diktator gesagt oder geschrieben hat. Kurz: es bedarf in einem sich beschleunigenden Prozeß des Aussschlusses bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder auch der Verbrennung von Büchern, der Auslöschung von Bildwerken, der sogenannten „Entarteten Kunst“ späterer Jahre, am Ende gar keines auslösenden Befehls mehr. Denn die Menschen haben in Hitlers Richtung gearbeitet, also auf ihn sich zu bewegt. Dafür gibt es auch beim Militär die althergebrachte Wendung des „vorauseilenden Gehorsams“.
Dieses Zitat zum Verhältnis zwischen dem „Führer“ und seinem „Volk“ steht dem 13. Kapitel des ersten Bandes von Ian Kershaws zweibändiger Hitlerbiographie voran. Ihm folgt ein weiteres, in dem ich nun das Wort „Judentum“ durch „Bücher/Autoren“ ersetze:
„Der Führer [muß] zwar aus auße[n]politischen Erwägungen nach außen hin Einzelaktionen gegen [die Bücher/Autoren] verbieten, [ist] aber in Wahrheit durchaus damit einverstanden, daß jeder einzelne den Kampf gegen [die Bücher/die Autoren] in schärfster und radikalster Form auf eigene Faust fortsetz[t].“ (Ebd.)
Diese „Meinung eines Hessen im März 1936“ bezieht sich auf das Olympiajahr 1936, als der Judenhaß öffentlich „gebremst“ wurde, um in Berlin die Weltöffentlichkeit begrüßen zu können, ohne daß die deutsche Politik an den Pranger gestellt würde. Doch da waren die Bücher schon längst verbrannt, deren Autoren des Landes verwiesen oder aus eigenem Entschluß emigriert, durften ihre Bücher nicht mehr gedruckt, ausgeliehen, verkauft und in Schulen gelesen werden, hatten die Autoren somit auch jegliche Einnahmequellen verloren.
Zur Bücherverbrennung selbst schreibt Kershaw, noch ehe er das Grundprinzip der Hitler-Diktatur in dem Satz des „dem Führer entgegen Arbeitens“ findet: „Es war aber nicht Goebbels [der Propagandaminister], der dieses schändliche Spektakel gegen den ‚undeutschen Geist‘ – das in dieser Nacht in allen deutschen Universitätsstädten abgehalten wurde – initiiert hatte, sondern die Führung der Deutschen Studentenschaft, die mit dieser Aktion gegenüber dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund […] Boden gut machen wollte.“ (Ebd., S. 611) Es war, so Kershaw, eine „Aktion“ nationalsozialistischer wie national gesinnter Lager, allgemeiner Beamter wie Polizeibeamter, ohne daß ihre Räumung der Bibliotheken auf Widerstand von Seiten der Universitätsbediensteten stieß: „vielmehr wohnten die Universitätsangehörigen den Bücherverbrennungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, persönlich bei.“ (Ebd.) Goebbels als „politisch ranghöchste[r] Germanist Deutschlands“, auch „Doktor der Philosophie“, trat vor 90 Jahren in Berlin als Redner auf (EZ).



All das heißt, wenn etwa in Worms am Rhein am Obermarkt eine Bücherverbrennung stattfand2, wie auf der interaktiven Deutschlandkarte vermerkt, dann waren die dort Beteiligten noch weit gründlicher als diejenigen, die dies in Universitätsstädten taten, weil in Worms oder auch noch kleineren Orten wie Norden oder Leer gar keine Einrichtungen existierten, die so ohne weiteres als Vertreter des „undeutschen Geistes“ hätten angegriffen oder leer geräumt werden können. Falls dies dennoch geschah, waren die Bücher an Orten auf dem Land ähnlich schlecht geschützt wie später die Menschen. Denn Verstecke gab es kaum, und Leute, die mutig genug waren, Bücher zu verstecken, die sonst verbrannt worden wären, sind womöglich auf dem Land auch seltener gewesen als in der Großstadt.Direkt vor den Augen der Fahnder nach solchen Büchern gerettet wurde 1933 ein Exemplar des Romans „Die Rebellion“ des jüdischen Schriftstellers Joseph Roth. Diese Geschichte erfährt der irisch-deutsche Autor Hugo Hamilton eines Tages, als er zum Verwandtenbesuch in Magdeburg weilt. Die damit verbundenen Verwicklungen fesseln ihn so, daß er aus Sicht dieses Exemplars von „Die Rebellion“ dessen Geschichte und die seiner Besitzer seit dem Tag der Bücherverbrennung aufgeschrieben hat. Da ich Hugo Hamiltons Werk seit 1995 kenne, ein zwei seiner Kurzgeschichten übersetzt habe und ihm 1998 bei einer Lesung in Münster einmal persönlich begegnet bin, fesselte mich das Buch mit dem Titel „The Pages“, als ich in der Buchhandlung Lünebuch in Lüneburg im letzten Herbst darauf stieß. Seither hat mich der Gedanke, weitere gerettete Bücher zu finden, nicht mehr losgelassen. Auf Deutsch trägt es den weniger griffigen Titel „Echos der Vergangenheit“. Denn wie bei den geretteten Büchern, die ich nach vergeblichem Stochern und Fragen in Norden fand, geht es nicht so sehr um Nachklänge als um konkret greif- wie sicht- und lesbare Aspekte des Buches wie der Verwicklungen, in die die Menschen geraten, die es von einem Ort zum anderen tragen.



Unweit des Buchladens liegt in Lüneburg das Heinrich-Heine-Haus, wo die Eltern des Dichters gelebt hatten und er selbst zu Besuch war. Zur Bücherverbrennung hat sich Heine literarisch in seinem Drama „Almansor“ geäußert: Sprachrohr ist der Maure Hassan mit den immer wiederz zitierten Worten: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ (zitiert nach EZ) Hier wird jedoch auf den vom katholischen Bischof von Toledo befohlenen Akt, „5000 islamische Bücher inklusive Koran zu verbrennen“ aus dem Jahr 1499 Bezug genommen (EZ). Noch ein weiteres Mal ist Heine verbürgt mit einer Äußerung zu Bücherverbrennungen, nämlich gut 20 Jahre nach dem Wartburgfest von 1817, zum 400. Jahrestag der Reformation also:
„[…] auf der Wartburg krächzte die Vergangenheit ihren obskuren Rabengesang, und bei Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren! […] auf der Wartburg […] herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anders war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte, als Bücher zu verbrennen! Ich sage Unwissenheit, denn in dieser Beziehung war jene frühere Opposition, die wir unter dem Namen »die Altdeutschen« kennen, noch großartiger als die neuere Opposition, obgleich diese nicht gar besonders durch Gelehrsamkeit glänzt. Eben derjenige, welcher das Bücherverbrennen auf der Wartburg in Vorschlag brachte, war auch zugleich das unwissendste Geschöpf, das je auf Erden turnte und altdeutsche Lesarten herausgab: wahrhaftig, dieses Subjekt hätte auch Bröders lateinische Grammatik ins Feuer werfen sollen!“3
Gut zwanzig Jahre nach den Bücherverbrennungen nationalsozialistischer Studenten, 1965, also nach gut eineinhalb Jahrzehnten der Bundesrepublik, „verbrannten junge Menschen, die ‚Entschieden für Christus‘ kämpfen wollten, [in Düsseldorf] unter Berufung auf die Apostelgeschichte 19, 19 […] öffentlich ‚Schund- und Schmutzliteratur‘, aber auch Bücher von Camus, Grass oder Kästner.“ (EZ)
Kästner, kein Jude, selbst hatte wie der Jude Arnold Zweig am 10. Mai 1933 dem Inferno in Berlin zugeschaut. Von diesem wird auch der Band „Junge Frau von 1914“ (1931) verbrannt, in dem es heißt:
„Ein Sohn erzählt seinem Vater von einem Gespräch zwischen deutschen Militärs im besetzten Polen, im Gebiet zwischen Windau und Białystok, dessen Bevölkerung die deutsche Verwaltung aus völkerrechtlichen Gründen zu ernähren hat. / Ein junger, schneidiger Hauptmann habe die damit verbundenen Schwierigkeiten referiert und zu ihrer Lösung vorgeschlagen, die jüdische Bevölkerung des Gebietes einfach auf Schiffe zu deportieren und sie weitgehend ihrem Schicksal in der minenverseuchten Ostsee zu überlassen.“4
Daniel Hoffmann konstatiert abschließend, von derlei Unmenschlichkeit bereits im Verlauf des Ersten Weltkrieges „haben jedoch deutsche Leser erst wieder lesen können, als es nach dem Zweiten Weltkriegh und dem Holocaust bereits zu spät war“. (JA)
Vom Anlaß, nach überlebenden Büchern zu fahnden, zu den „Überlebenden“ selbst. Sie sind wie das Exemplar von „Die Rebellion“ Joseph Roths selbst nun jeweils bejahrte Zeitzeugen, Zeugen der Zeit ihres teilweise weit über ein Jahrhundert schon andauernden Lebens: In der Vitrine vor Ihnen haben wir sie drapiert. Wie Menschen, die als Zeitzeugen zu uns sprechen, sind auch diese Bücher versehrt von dem, was sie durchgemacht haben, einem Exemplar von Oscar Wildes „Dorian Gray“, der Erstübersetzung dieses Romans ins Deutsche aus dem Jahr 1901, fehlten die ersten zwei Seiten, die ich in Kopie von einer Universitätsbibliothek in Süddeutschland erhalten konnte. Wie ich erst jüngst beim Erwerb des zweiten Exemplars dieses Drucks feststellen konnte, fehlen jenem ersten Exemplar, das unscheinbar grau eingebunden ist, sogar noch vier weitere Seiten, Werbeseiten, um genau zu sein. Der Grund ist ganz klar: hier hat ein Vorbesitzer, um sein Buch zu schützen, die Seiten herausgetrennt oder gar nicht einbinden lassen, auf denen die Themen des Verlages Max Spohr noch deutlicher werden als im Roman selbst. Es fehlen genau vier Seiten, auf denen Bücher angezeigt werden, die sich mit Sexualität in allen Schattierungen befassen, nicht nur mit Oscar Wilde, sondern ganz allgemein. Allein für diese Erkenntnis hat sich der Erwerb eines zweiten Exemplars gelohnt. Diese Ausgabe ist extrem selten.
Für Bücher dieser Art ist der Verlag Max Spohr in Kennerkreisen noch heute ein Begriff. Im Jahr 1933 wurde auch „die Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft von Dr. Magnus Hirschfeld (1868-1935) vor dem Abtransport zur Bücherverbrennung“ sogar photographisch festgehalten. Hirschfeld wurde primär als Jude angegriffen, jedoch als homosexueller Streiter gegen den Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches ebenso. Das heißt, wer Bücher Hirschfelds und seiner Mitstreiter, darunter neben Max Spohr (1850-1905) auch Hirschfelds Schulfreund Johannes Gaulke (1869-1938), der „Dorian Gray“ als erster ins Deutsche übersetzt hatte, besaß, mußte um deren Überleben fürchten. Verständlich ist es schon, daß ein Vorbesitzer meines ersten Exemplars hier zum Messer griff oder den Buchbinder zur Weglassung der letzten vier Seiten veranlaßte.5 Da Bücher ja Einzelnen gehören, war es sicher sogar in Berlin, wo „ab 6. Mai [1933] studentische Stoßtrupps Buchhandlungen und Leihbüchereien“ (EZ) ausraubten, möglich, das Eigentum zu verbergen.
Einen Titel jedoch konnte der Vorbesitzer meiner Ausgabe nicht herausnehmen, denn dann hätte er den Roman „verstümmelt“, ihm die letzte Seite genommen, wo der letzte Absatz mit den Worten endet:
„Auf dem Boden aber lag ein Mann in Abendkleidung, in dessen Brust ein Messer stak. Seine Haut war verblüht und runzelig, und sein Gesicht hatte einen ruchlosen Ausdruck. Seine Identität mit Dorian Gray konnte nur durch die Ringe, die dieser zu tragen pflegte, nachgewiesen werden.“ 6
Im gleichen Jahr 1901 hatte Gaulke auch einen Aufsatz publiziert mit dem Titel „Das homosexuelle Problem“, der von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft anders als seine Wilde-Übersetzungen noch heute genannt wird.7
Schlägt man dann die Seite um, stößt man auf die Anzeige für „Der Fall Wilde und Das Problem der Homosexualität. Ein Prozess und ein Interview von Os[kar] Sero“. Diese Broschüre beschaffte ich mir ebenfalls. Sie ist heute wieder erhältlich als Taschenbuch. Mein Exemplar trägt den Titel handgeschrieben auf dem Papiereinband.
Damals noch ohne Internetzugang zu Hause ging ich während einiger Monate in die Leeraner Stadtbibliothek, um dort antiquarisch erhältliche Wilde-Titel zu suchen, darunter eine weitere Übersetzung von Johannes Gaulke, „Das Sonnettenproblem des Herrn W. H.“, noch im originalen Broschureinband, aus dem Jahr 1902, ebenfalls mit einer einschlägigen Werbeseite auf dem Buchrücken, wobei hier die Mischung der Titel neben Werken zur sexuellen Orientierung auch solche zur Kriminalität, zu Sozialismus, Marxismus, Alkoholismus bis hin zur Epidemiologie enthält. Allesamt sind die Verfasser zumindest theoretisch Kandidaten für die Verbrennung ihrer Bücher.
Wer sich nur Werke eines Autors oder über diesen anschaut, erkennt vielleicht, in welcher Gefahr mancher Besitzer sich befand, der sie in seiner Bibliothek verwahrte oder gar ein besonderes Versteck für sie suchte. Mir wird nun auch klar, warum Oscar Wilde für in den 1950er Jahren Geborene im Westen Deutschlands ein Autor war, dessen Bücher unter der Ladentheke, in unscheinbare Umschläge gehüllt, verkauft und oft gar mit der Taschenlampe unter der Bettdecke zu Hause gelesen wurde. Selbst Jahrgang 1962, habe ich ihn erst im Englischstudium entdeckt, zwei Hochschullehrer erlebt, die auf seine Theorien schworen, ohne sogleich zu wissen, warum er für mich interessant sein könnte. Es dauerte viele Jahre, bis ich schließlich herausfand, in welcher Weise Wilde mit der Shoah, mit der Geschichte des Nationalsozialismus verbunden ist. Noch die geringfügigste Entdeckung war die Tatsache, daß Anne Frank das Stück „An Ideal Husband“ im Original gelesen hatte. Viel wichtiger und mit der Bücherverbrennung direkt verbunden ist die Ironie, daß etwa im Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ antijüdische Passagen auftauchen, die bis heute kaum kommentiert und in vielen Übersetzungen ins Deutsche noch verschärft, in manch anderen gestrichen oder abgemildert worden sind. Als Buch eines bekannten Homosexuellen wäre die Übersetzung womöglich verbrannt worden – wie die Romane Georg Hermanns, eines jüdischen Autors, der in seinen Erfolgsbüchern zum 19. Jahrhundert, „Jettchen Gebert“ und „Henriette Jacoby“, nicht nur den Biedermeier aufleben läßt, sondern durchaus antijüdische Stereotype transportiert. Seine Bücher waren Bestseller, deshalb gibt es mehr „Überlebende“ als etwa bei den frühen Wilde-Ausgaben. Dennoch wurden sie auch verbrannt, wie ich der Familienchronik „Der Tausch“ von Menno Kalmann entnehme, eines Niederländers und Europäers, der die Geschichte zweier jüdischer Familien über Flucht, Exil, Deportation, Rettung aufgezeichnet hat. Das heißt, Bücher erzählen vom Schicksal anderer Bücher, den Verschollenen und Verschwundenen ebenso wie den Geretteten und Wiederaufgefundenen. Wer liest, findet Bücher, vielleicht auch weitere Überlebende in Norden und um zu.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!







1 Ian Kershaw, Hitler. 1889-1936, aus dem Englischen von Jürgen-Peter Krause (Kapitel 11-13) und Jörg W. Rademacher (Kapitel 1-10), München: DTV, Band I, (1998), 2002, S. 663.
2 In ihrem Memoir I Remember / Denk ich an … (herausgegeben und übersetzt von Jörg W. Rademacher, Coesfeld: Elsinor, 2 2021) benennt Tanya Kagan-Josefowitz weder den genauen Ort der elterlichen Wohnung, noch reicht ihre Erinnerung weiter zurück als bis zum Besuch des Kindergartens ab 1933. Dennoch wurde der „Scheiterhaufen“ der Bücher in Worms in unmittelbarer Nähe der Wohnung am Obermarkt aufgebaut.
3 Buecherverbrennung-beim-wartburgfest-1817 (Zugriff: 12.03.2023)
4 Daniel Hoffmann, „Auf dem Scheiterhaufen. Vor 90 Jahren verbrannten die Nazis Bücher von Schriftstellern wie Alfred Döblin, Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger“, Jüdische Allgemeine (JA), Nr. 18, 4. Mai 2023, S. 19.
5 Bei genauer Untersuchung der Bindung ließe sich vielleicht feststellen, welches Verfahren angewandt wurde.
6 Oscar Wilde, Dorian Gray, aus Englischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Johannes Gaulke, Leipzig: Verlag Max Spohr, 1901, S. 203.
7 magnus-hirschfeld.de (Stichwort: gaulke-johannes) (Zugriff: 7. Mai 2023)