Ein Versuch über das Versteck
Wer je eine Ausstellung konzipiert, der Herstellung der Exponate begleitet und persönlich von A bis Z aufgebaut hat, weiß, was es heißt, wenn plötzlich das ein oder andere Puzzleteil im großen Ganzen falsch angeordnet oder gar völlig fehlt. Panik bricht aus, denn Ausstellen bedeutet nichts anderes als daß alles zu sehen sein wird, was bei anderen Medien, etwa in einem Buch, zum Teil im Verborgenen schlummert. Auch ein Autor, der aus seinen Werken liest, kann die Wahrnehmung der Zuhörenden besser steuern, als ein Ausstellungsmacher, Lauf- und Schauwege der Besucher. Wer eine Ausstellung eröffnet, ist zu Erklärungen verpflichtet, falls ein Teil fehlt oder falsch oder anders als gedacht gehängt oder aufgestellt ist.
So erreichte mich Ende letzter Woche eine E-Mail mit der so lakonischen wie schwer zu deutenden Mitteilung, es werde der Schule in Kürze ein Paket zugestellt, in dem das fehlende Modul enthalten sei. Neben genauen Angaben zur Aufschrift auf dem Paket enthielt die Mail auch beste Wünsche zum Aufbau und Projektbeginn.
Etwas mulmig wurde mir schon am Dienstag, dem 18. April, als noch immer kein Paket eingetroffen war, erst recht am Mittwoch, als der Techniker sich vereinbarungsgemäß auf dem Mobiltelefon meldete, es in null Komma nichts gelang, weitere Freiwillige für den Aufbau zu finden, aber das fehlende Modul noch immer ausblieb. Tatsächlich wußte der Techniker, daß der vorgesehene Nachbau von Anne Franks Versteck nicht fertig geworden war. Der kryptischen ersten Mitteilung hatte ich diesen Umstand nicht entnehmen können. Da es nicht in Frage kam, gar nichts in der Ludgerikirche aufzustellen, wurde, wie sich weniger später zeigte, letztlich ein falsches Modul dort hingebracht und aufgebaut.
Am Tag nach dem Aufbau beginnt traditionell das Seminar für die Peer Guides innerhalb und mit der Ausstellung. Direkt vom Anne-Frank-Zentrum entsandt, jedoch als freie Mitarbeiterinnen desselben, wissen die Trainerinnen auch etwas vom geplanten Ersatz für den früheren Gedankenraum, der im Jahr 2017 in Norden aus Platzgründen nicht aufgebaut worden war. Während das Seminar schon läuft, mein üblicher Donnerstag mit Fahrt zum Unterricht und zurück sowie Kinderbetreuung mit Hausaufgaben und dieses Mal einem Termin beim Zahnarzt ausgefüllt ist, erhalte ich eine ausführliche E-Mail, in der nicht nur wegen des Bahnstreiks der Besuch der Direktorin in Norden abgesagt wird, sondern welcher erstmals Genaueres über die noch fehlenden Teile der Ausstellung zu entnehmen ist.
Für den Freitag werden zwei Kurierfahrten nach Norden avisiert: von Seiten der Techniker, die tatsächlich aus Magdeburg, nicht aus Berlin anreisen, wie von Amsterdam aus. Für mittags angekündigt, tauchen beide gegen 13 Uhr auf, um dann zunächst in der Kirche das Modul wieder ab- und die alte Version des „Verstecks“ wieder aufzubauen, sozusagen als Appetithappen für die eigentliche Ausstellung im Ulrichsgymnasium. Die Kooperationspartner Kirche und Schule sind jeweils vertreten und entscheiden gemeinsam, wo die beiden Elemente wie aufgestellt werden, damit auch die Besucher der Kirche einen Eindruck dessen gewinnen können, was das Versteck ausmachte, in dem die acht Juden über zwei Jahre ausharrten. Zu dem Thema wird es am Sonntag, dem 23. April 2023, in der Ludgerikirche auch einen Gottesdienst geben, wie Pastor Martin Specht bei der Eröffnung in seinem Grußwort ausführt. Nicht nur hat Anne Frank ihr Versteck nicht überlebt, auch war das im Versteck-leben nicht nur auf die Zeit des Krieges und der Besatzung beschränkt. Vielmehr sind Juden wie deren Nachkommen auch lange nach Kriegsende gezwungen, ihre Identität zu verbergen, oder Kinder werden so gedrillt zu sagen, sie seien Protestanten, Katholiken, Christen eben, daß es in manchen Fällen viele Jahrzehnte dauert, bevor zufällig beim Blick auf den Stammbaum die jüdische Herkunft eines Großelternteils enthüllt wird.
Anne Franks Versteck lenkt also einerseits die Gedanken auf das Leben von Juden im Versteck, im Verborgenen nach Kriegsende, anderseits auf all das, was sonst noch versteckt, verborgen, verdrängt wurde in einer Gesellschaft, die ihre größte Minderheit, aber auch andere durch systematische Verfolgung fast völlig vernichtet hatte, ohne verhindern zu können, daß an vielen Stellen, oft lange verborgen, noch Spuren sichtbar gemacht werden können.
Verborgen war mir bis zu diesem Tag, als von Ost und West im Sinn einer geplanten Sternfahrt je ein Fahrzeug zur Bestückung der Ausstellung zur Stadt Norden fährt, wer die Ausstellung im praktischen Sinne entworfen hatte. In den Niederlanden sind alle Bestandteile hergestellt und teils noch erkennbar beschriftet worden, um die Montage zu vor Ort durch jeweils andere Gruppen von Jugendlichen erleichtern, wie die Mitarbeiterin des Anne-Frank-Hauses Amsterdam irgendwann feststellt, als ein Element sich nicht fügen will. Sie erkennt die eigene Handschrift, die nach elf Jahren der Wanderschaft allmählich verblasse. Das heißt, die Odyssee der Ausstellungsfahne, die nun in einem französischen PKW nach Norden gelangte, nahm ihren Ausgang in der deutschsprachigen Redaktion in Berlin. Passend zur in den Niederlanden gefertigten Ausstellung von 2012 müssen alle Neu- oder Ersatzteile auch dort verfertigt werden, immerhin ist in diesem Fall kein Aluminium erforderlich. Das werde aus der Ukraine geliefert und deshalb sei das Versteck auch nicht fertig geworden. Lieferketten sind unterbrochen, Pakete versacken beim Versand, ein Paketdienst streikt. Das gab den Ausschlag für die Mitarbeiterin der Bildungsabteilung, nun selbst nach Norden zu reisen, um in eigener Verantwortlichkeit, wie sie sagt, sicher zu stellen, daß alles am rechten Platz sei, wenn am Freitagabend eröffnet würde.
Es ist erst ihr zweiter Besuch überhaupt in Deutschland. Als Kind sei sie einmal im Winter im Ruhrgebiet gewesen, direkt hinter Grenze, wo alles grau ausgesehen habe. Ostfrieslands Schönheit habe sie überrascht sagt sie in perfektem Englisch. Deutsch könne sie nicht. Also wird auch beim Aufbau eine Gemisch aus Niederländisch, Deutsch und Englisch parliert. Nahezu zwanzig Minuten fädeln die beiden Niederländer den Faden ein, an dem das neue Modul zum Versteck hängen wird, auf dem auch in räumlicher Darstellung schon zu erkennen ist, wie der Nachbau aussehen soll, sobald er auf Wanderschaft geht.
Beim Gespräch erfahre ich einiges über die Beziehungen zwischen den Partnerorganisationen, die zwar die gleichen Ziele verfolgen, sogar ein identisches „mission statement“ teilen, aber wie so viele andere europäische Einrichtungen auch jeweils kulturell anders funktionieren.
Aus Deutschland stammend, dorthin letztlich 1944 wieder verschleppt, hat Anne Frank ihr Herkunftsland allein deshalb nie ganz hinter sich lassen können, weil sie als Kind ja mit der Familie ins Exil gegangen und dann auch wieder deportiert wurde, bis zuletzt mit ihrer Schwester Margot zusammen war. Durch die Niederschrift des Tagebuchs auf Niederländisch ist ihre deutsche Herkunft lange Zeit eher versteckt geblieben, die Jugendlichen wissen das nicht unbedingt, wenn auch kaum jemand Anne Frank nicht kennt. Doch manche Zufallsbegegnung auf dem Zebrastreifen an der Ludgerikirche belegt, in Norden gibt es auch junge Leute, die noch nie von Anne Frank gehört hatten und deshalb nicht zu motivieren sind, einfach mal mitzukommen. Das Tagebuch gelesen zu haben, zählt für viele Ältere zum unverzichtbaren Bildungsgut, auch wenn die Erinnerungen an die Lektüre oder auch an das Buch im greifbaren Sinne erst verblaßt sind, bevor sie fast schon an Wirklichkeit verloren hatten, wie an manchem Taschenbuch aus den 1950ern der Zahn der Zeit vor allem an der damals modernen Cellophan-Kaschierung genagt hat. So alt ist manches Exemplar, daß es im eigenen Gedächtnis für die Privatbibliothek zu den versteckten Büchern gehört.
Zur zur Praxis: Auch der Begriff „Versteck“ wird durch die Verzögerungen im Aufbau unvermittelt mit neuen Bedeutungen aufgeladen, stellt sich heraus, daß Ausstellen ebenfalls heißen kann, andere zufällig oder absichtlich vorbeikommende Besucher darauf hinzuweisen, was sonst nicht zu sehen ist, was etwa in Engerhafe unter dem Parkplatz liegt beziehungsweise der gegenüber errichteten Wohnsiedlung: das Lagergelände des gerade mal für sechs Wochen im Herbst 1944 existierenden KZ Engerhafe. Seit einiger Zeit deutet ein Schild mit braunem Untergrund auf diese Tatsache hin. Unter den Wiesen und Äckern einst, nun unter Steinen oder Steinhäusern verborgen sind sicher noch weitere Reste des damaligen Lagerlebens, während anderes in der Ausstellung zu sehen ist, die zu ermöglichen ein ostfriesischer Maler geholfen hat, Herbert Müller, der als Künstler seit den 1980ern allmählich sichtbar machte, was die Menschen drumherum vertuschen, verdrängen, vergessen wollten, bevor seine Bilder ihre Erinnerungen wieder zum Sprechen brachten. Genau diese Kunstwerke werden dann im Juni/Juli 2023 in der Ludgerikirche ausgestellt. Er hat Stationen seines Entdeckens und Aufdeckens geplant, die im Chorumgang der Kirche nacheinander zu sehen sein werden. Bei der Anfahrt nach Norden und dem schon unumgänglich gewordenen Zwischenstopp auf dem Parkplatz mit Blick auf das Lagergelände steigt das Bild der historisch basierten Rekonstruktion des Lagers wieder vor mir auf, die eine Schülerin im Jahr 2018 angefertigt hatte, die erst möglich geworden war, als die emotionale Erinnerung, geweckt durch bildliche Darstellungen, bei den Zeitzeugen sich Bahn gebrochen hatte. Dies ist bei Anne Frank, wie sie in dieser Ausstellung dargestellt ist, auch der Fall, denn geht man im historischen Teil rechts herum, steht das Tagebuch am Anfang, mit dem jede Auseinandersetzung mit dem Schicksal Annes und ihrer Familie begonnen hatte. Allmählich wird so im Rückblick aufgedeckt, wie es zur Publikation des Tagebuchs im Jahr 1947 gekommen war. Wer den üblichen Museumsweg, also nach links durch den Raum geht, tritt ein in die Zeit der Familie Frank, wie sie von der Zeitläufte erfaßt wurde.
Besucher der Ausstellung an den ersten beiden Tagen nach der Eröffnung, zufällig vorbeikommende Passanten, die am Sonnabend, das Banner an der Außenwand der Ludgerikirche gesehen haben, Schüler, die mit einem zerknüllten Flyer in der Hand das Gebäude betreten, der ihnen am vorvergangenen Freitag von den Peer Guides überreicht worden war, Gottesdienstbesucher vom Sonntag, oder Personen, die genau Zeitung gelesen haben, alle haben sie das hinter Efeu im Hintergrund des historischen Ortes Fräuleinshof liegenden, rechts der Norddeicher Straße angesiedelten Kunstgebäudes des Ulrichsgymnasiums ausfindig gemacht. Mühe und Anstrengung sind schon erforderlich, Offenheit und Aufmerksamkeit ebenfalls, um auch nur den Weg zu finden.
Kirche, Schule, ehemalige jüdische Schule: Dies sind die drei Einrichtungen in Norden, wo derzeit Plakate und Banner der Anne-Frank-Ausstellung außen zu sehen sind. Vielleicht gibt es noch das ein oder andere Plakat innen, etwa in einer Buchhandlung oder der Stadtbibliothek, mehrere Banner im Gymnasium sowieso und an manchen Schulen, die ich zwischen Norden und Rhauderfehn am Montag, dem 17. April 2023, persönlich mit Plakaten versorgt habe.
Der Aussteller wird vorstellig, trifft neue und alte Kollegen. Eine per Internet verbreitete Nachricht ist selbst mit Hinweis auf eine aktive Webseite, die eine Registrierung für die Ausstellung vom PC oder Handy aus ermöglicht, weniger direkt als das Gespräch, und Schüler, die am Samstag in die Ausstellung kommen, sind noch bessere Boten für die eigene Schule oder den Lehrer, als es der Organisator sein könnte. Schon dafür zu werben, heißt aus dem Versteck herauszutreten, was ja auch die Schülerinnen und Schüler im Vorfeld taten, die sich als Peer Guides freiwillig meldeten, um die Gruppen zu begleiten, in Gespräche und kontroverse Diskussionen zu verwickeln, kurz, den Unterricht um unverzichtbares Selbstlernen mit anderen zu ergänzen.
Vielleicht treffen am Mittwoch, dem 26. April 2023, um 13 Uhr 45 mit dem Leiter der Gedenkstätte Dornum, Georg Murra-Regner, dessen Wirken schon lange nicht mehr verborgen ist, der jedoch als Jude ohne jüdische Gemeinde in Ostfriesland das Leben in Isoliertheit noch immer schmerzlich findet, und einem Besucher der Ausstellung heute, am 22. April 2023, zwei Menschen in der Ausstellung aufeinander, die das Verborgene, das Verstecken-müssen nur zu gut aus zwei verschiedenen Perspektiven kennen. Auch manche Zugezogene mit einer Geschichte in der DDR, die es in Norden gibt, ob nun jugendlich, erwachsen oder im Rentenalter, könnte hier allein sprachlich schon aus dem Versteck heraustreten, da ja erst eine vertraute Atmosphäre einen so sprechen läßt, wie es die familiäre und dialektale Umgebung einst vermittelt hatte. Umgeben von einer ganz anderen Norm bleibt es bei vielen nicht aus, daß sie in Anpassung an die Mehrheit die eigene sprachliche Identität unter einem neutralen Sprachduktus verstecken.
Ebenso versteckt wie manche private Herkunftsgeschichte ist ja für die Lesenden des Tagebuchs der Anne Frank vielfach die historische Dimension ihres kurzen Lebens gewesen. Denn als autobiographische und literarische Schrift ist das Tagebuch ja weit davon entfernt, die Geschichte im historischen Sinn, den Kontext oder auch nur die weit zurückreichende und noch immer andauernde Familiengeschichte der Franks abzubilden oder gar zu enthüllen. Dazu bedarf es ganz anderer Bücher, als Anne Frank eines geschrieben hat, es bedarf einer Ausstellung, welche die anderen Schichten aus dem Versteck holt, offen legt, was es parallel zur Abfassung des Tagebuchs gab.
Nicht zuletzt enthält die Ausstellung als zweiten Teil eine auf aktuell-politisch-soziale Auswirkungen des Tagebuchs wie des Phänomens von Anne Frank Folge von drei Modulen. Als diese entstanden, bis ins Jahr 2011 hinein sind manche Plakate und Zitate datierbar, war Judenhaß eher noch als Fremdenfeindlichkeit eher im Verborgenen wirksam, als das heutzutage der Fall ist. Denn seit September 2017, also kurz nach der ersten Anne-Frank-Ausstellung in Norden, ist eine rechtsradikale Partei im Deutschen Bundestag vertreten, steigen Gewalttaten unterschiedlichster Art, die gegen jüdische Einrichtungen und Menschen sich wenden, ganz gleich, ob von rechts oder von links der politischen Mitte, ist es wieder Teil der Öffentlichkeit, was lange als Tabu galt, sich offen rassistisch gegen Juden zu äußern.
Und es ist beileibe kein isoliertes deutsches Phänomen, als das es noch im März 2017 bei der Tagung des Relais de la mémoire in Marseille vom damaligen Präsidenten der Vereinigung erklärt wurde. Mit dieser Begründung verhinderte er die Diskussion einer klar nationalsozialistische Ziele öffentlich wieder benennenden Rede, die auch nicht gekennzeichnete wörtliche Zitate Hitlers enthielt und von einem noch heute führenden Mitglieds dieser rechtsradikalen Partei gehalten wurde, durch Jugendliche aus fünf europäischen Ländern, die sich noch immer ausdrücklich treffen, um den Staffelstab der Erinnerung an die Shoah weiterzutragen und durch Begegnungen mit Zeitzeugen selbst zu Zweitzeugen herangebildet werden.
Jörg W. Rademacher, Norden, in der Anne-Frank-Ausstellung, 22. und 23. April 2023
Zwei Monate und eine Ausstellung später
Längst läuft die Ausstellung Herbert Müller, von der im April noch im Futur die Rede war (zur Besprechung siehe „Partner“). Der Abbau der Anne-Frank-Ausstellung im Kunstgebäude des Ulrichsgymnasiums wie auch der Station in der Ludgerikirche wurde eher photographisch denn mit Texten begleitet. Interessant war die Information am Rande des Abbaus, nun sei das Versteck, wie es schon für Norden vorgesehen war, auch im Depot in Magdeburg eingetroffen: zum Einsatz an anderen Standorten. Für Norden selbst bedeutete dies den entscheidenden Verlust der Laufkundschaft der zufällig in der Ludgerikirche weilenden Besucher, die dort ein gewichtiges Element der Gesamtausstellung hätten sehen können und nun mit einem zweidimensionalen Aufsteller vorlieb nehmen mußten. Da die Jugendlichen, die am Auf- und Abbau beteiligt waren, zum Teil auch als Peer Guides gewirkt hatten, sind die photographischen Impressionen zugleich auch Zeugnisse ihrer gemeinsamen Arbeit am Projekt.

In der Ludgerikirche am 16. Mai 2023 vor dem Abbau der Versteckstation. Noch einmal fast die gleiche Einstellung, doch mit besserem Blick auf die Materialien, auch das lokal vom Medienzentrum Norden im Verbund mit dem Organisator gefertigte Banner, das nicht nur in der Kirche, sondern auch jeweils draußen am Vorbau von Ludgeri wie am Kunstgebäude im Fräuleinshof zu sehen war. Auch im Schulgebäude waren solche Banner aufgestellt, doch gab es manchen jugendlichen Besucher der Anne-Frank-Ausstellung, denen sie im täglichen Gewusel nicht aufgefallen waren.


Vor dem LKW, als alle Ausstellungsteile in ihre fahrbaren Untersätze verpackt und aus dem Kunstgebäude gerollt worden waren und die beiden Techniker den Jugendlichen auch die Bedienung der wie ein Aufzug funktionierenden LKW-Klappe überließen.
Noch ist die Klappe nicht aktiviert.

Nun geht es ans Einräumen.

Wen solch ein Vorhaben über sechs Jahre in Atem gehalten hat, nicht unentwegt, na klar, doch immer wieder und mit teilweise großen punktuellen Anforderungen an persönliche Präsenz und Nervenkostüm, denen ist es alles andere als egal, wenn im unmittelbaren Umfeld der Beteiligten „Hakenkreuze“ auf den Tischen im Klassenraum auftauchen und Wahlsiege einer ausdrücklich rechtsradikalen Partei Gegenstand von Internet-Posts werden. Da hilft nicht nur der eher persönlich geäußerte Respekt derer, die gern mitgemacht, die Aktion moralisch und finanziell unterstützt haben, wie die Erinnerung manch anderer, die, weit entfernt, dennoch nach Jahren danach fragen, wie denn die Anne-Frank-Ausstellung verlaufen sei. Ein weiteres Moment ist, daß, sosehr das Projekt selbst nun in die Vergangenheit rückt, der tägliche Alltag immer wieder Überraschungen bereit hält, die zeigen, daß wir zwar das Jahr 2023 schreiben, aber manche Fragen auch schon vor bald 40 Jahren aus Sicht etwa der Anne-Frank-Stichting in Amsterdam ähnliche Relevanz hatten wie heute. Beim vierteljährlichen Bücherbasar in der Petruskirche Loga, dem östlichen Stadtteil von Leer, Ostfriesland, stoße ich am Nachmittag des Johannistages auf den zweisprachigen Katalog Anne Frank in the world/Die Welt der Anne Frank.

Es gibt diesen in Schwarzweiß gedruckten Band vielfach antiquarisch im Internet zu erwerben. Besondere Brisanz haben die Kapitel 55-57, die, selbst schon historisch, vor allem durch die Präsentation der Photos in Schwarzweiß, gleichwohl mit den Titel „Neo-Nazis und die Verleugnung des ‚Holocaust’“, „Antisemitismus und Antizionismus“ sowie „Rassismus der Gegenwart“ noch vor dem Ende des Kalten Krieges beredt Zeugnis davon ablegen, daß wer Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, schon in den 1980er Jahren, nur im Westen versteht sich, erkennen konnte, daß die Gespenster der rechtsradikalen wie rassistischen Vergangenheit nicht verschwunden waren und daß zugleich ein Antisemitismus von links ebenfalls schon lange Teil der Gesellschaften in Westeuropa gewesen war. Das heißt auch, daß nach der Anne-Frank-Ausstellung in Norden erneut in diesem Sinne nach vorn zu blicken ist, denn die Zahl derer, die sich im persönlichen Kontakt, seien es Mitarbeitende im Back- und Bahnhofsskioskbereich, sei es ein Zufallssitznachbar im ICE, sei es ein leitender Beamter im Schuldienst, sei es ein Elternteil am Rande einer Gruppenreitstunde, mit Gedanken zu Wort melden, die zu „Querdenkern“, „Rechtsradikalen“ oder ähnlichem passen, nimmt anscheinend ebenso zu wie die demoskopische und demokratische Zustimmung zu der entsprechend auftretenden Partei.
Es gibt Gegengifte, ganz sicher, persönliche Begegnungen mit Menschen, die aktiv noch heute aktuelle Probleme aus der Vergangenheit beleuchten, aber auch Dokumentationen wie „Der Fall Schuster – Eine Familie im Fadenkreuz der Gestapo“.

(BR, Zugriff: 24.06.2023)
David Schuster, Zweiter von links, jüngster Sohn von Auguste und David Schuster aus Bad Brückenau in Unterfranken, wurde 1954 in Israel Vater von Dr. Josef Schuster, heute Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Nur durch die Familie, genauer, Großvater und Vater, über die Shoah und vorherige Inhaftierung der beiden Männer seiner Familie sowie die erzwungene Ausreise der Familie Ende 1938 in Kenntnis gesetzt, hat Josef Schuster erst durch die Recherchen des Bayerischen Rundfunks im Staatsarchiv Würzburg von den Akten erfahren, die nahezu lückenlos dokumentieren, wie mit Hilfe fingierter Anschuldigungen letztlich erreicht wurde, daß seine Familie mittellos Deutschland verlassen und sich im damaligen Palästina, das noch unter britischer Mandatsherrschaft stand, eine neue Existenz aufbauen mußte. Weil in Würzburg an die 25 000 Gestapo-Akten verwahrt werden, ist für Unterfranken beispielhaft für viele andere Regionen dokumentierbar, wie diese Polizei, gestützt durch private Denunziationen, systematisch daran arbeitete, die Region „judenfrei“ zu machen, wo es bis zur Shoah die größte Dichte an jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland gegeben hatte. Wer das gesehen und in sich aufgenommen hat, denen fällt es schwer zu glauben, überall sonst, wo die öffentlichen Archive angeblich nichts mehr an Gestapo-Akten verwahren, sei es komplett unmöglich zu beweisen, was damals geschehen ist. Tatsächlich muß es darum gehen, erst einmal privat nachzuforschen, in den eigenen Familien. Noch ein Schritt wird in den nächsten Tagen getan, denn eine Gruppe des Ulrichsgymnasiums fährt mit Zug, Bus und Zug nach Groningen. Dabei ist geplant, am Bahnhof Leer wie am Bahnhof Weener um die Mahntafeln Aufstellung zu nehmen, die an diese Orte als Stationen auf der Deportationsroute vom Kamp Westerbork aus erinnern. Nicht zuletzt Familie Frank und alle Versteckten im Hinterhaus sind hier mit dem letzten von 109 Transporten von Kamp Westerbork zunächst über die niederländisch-deutsche Grenze, dann über die Ems und schließlich von Leer aus Richtung Osten, also zunächst vorbei an den Ortschaften Nortmoor und Detern vorbei ins Ammerland deportiert worden. Zeugen dieser Züge sind zumeist schon verstorben, doch wer seinem Sohn davon erzählt hat, weil er bei Kriegsende bereits 13 Jahre alt war, der hat nicht nur Farbe bekannt zu dem, was ihm widerfahren ist, zu ändern war daran ja nichts für einen Jugendlichen aus Ostfriesland, sondern der hat auch dem Sohn bewiesen, jenseits aller Abstraktion von Schulwissen, daß es darauf ankommt, selbst Augen und Ohren offen zu halten und eigene Schlüsse aus dem Gesehenen wie dem Gehörten zu ziehen. All das kann vor Ort und im persönlichen Kontakt helfen, Widerstand zu leisten gegen die, denen demokratische Verfahren zu mühsam sind, die auch Debatten nicht führen mögen, es sei denn, um Andersdenkende zu verunglimpfen.
Jörg W. Rademacher, 24. Juni 2023